13. Oktober 2011

Ich-Form

"Darf man wirklich nicht die Ich-Form benutzen? Muss ich immer 'man' schreiben?", fragt eine Studentin.

Der Streit ist uralt. Dreht er sich nur um eine Stilfrage? Geht's um persönlichen Geschmack?

Nicht ganz. In den meisten Wissenschaften ist die Haltung, dass die Autorin so weit wie möglich hinter der Materie zurücktreten soll. Wissenschaft soll so objektiv und unbelastet von persönlichen Einschätzungen und Einlassungen sein wie möglich. Das drückt sich auch im Stil aus. "Ich" soll inhaltlich gar keine Rolle spielen.

Allerdings: Das ist eher eine Konvention mit Symbolwert -- und vielfach fragwürdig.
  • Ein Text wird nicht automatisch objektiver, nur weil der Autor das "Ich" sprachlich versteckt.
  • Ein Text wird nicht lesbarer und schöner, wenn ein Autor umständliche Passivkonstruktionen benutzt ("Es wird untersucht" oder "Kapitel 3 untersucht" statt "Ich untersuche...") oder gar ständig "man" verwendet.
  • Manche Autoren schreiben in der dritten Person: "Der Autor...", "Der Verfasser...". Studenten kostet das viel Überwindung, es ist ja auch ziemlich komisch, sich beim Schreiben von sich selbst zu distanzieren.
Aus meiner Sicht ist das "Ich" selten wirklich problematisch. In Einleitung und Fazit ist das "Ich" oft eine natürliche Form. Dies pauschal als Fehler und Formatverletzung zu werten, ist übertrieben. (Ich hätte hier auch schreiben können: "Dies..., halte ich für übertrieben." -- Sie sehen, ich kann meine wertende Meinung ausdrücken, ohne "Ich" zu verwenden, trotzdem ist es eine Meinung.)

Allerdings gibt es Studierende, die die sachorientierte Argumentation nicht gut beherrschen und einen wissenschaftlichen Text mit einem Erguss persönlicher Meinungen verwechseln. Da wimmelt es dann von persönlichen Bezügen: "Ich finde", "Ich meine", "Ich denke".

Das führt manchmal auf die falsche Bahn, denn der Autor führt sich selbst als Autorität anstelle einer Quelle oder eines Sacharguments ein.


Das "Ich" lenkt den Leser auch ab. Sie sollten also einen guten Grund haben, wenn Sie im Haupttext ein "Ich" verwenden. Meistens ist es vermeidbar, ohne die Sätze zu verrenken.

Ansonsten gilt: Sprechen Sie mit Ihrem Professor, ob er "Ich" erlaubt oder nicht. Fragen Sie ihn aber auch, warum er das so sieht.

Schließlich: Wir Deutschen sind da im internationalen Vergleich besonders leicht zu kitzeln. Die deutsche Sprache bietet viele Möglichkeiten, den einfachen aktiven Satz zu umgehen, und das ist selbst im Alltag ständig zu beobachten (wie dieser Satz mit zwei "zu" beweist). Eine kulturelle Eigenheit. Im Englischen finden sich viel mehr "Ich" und "Wir", auch in der Wissenschaftssprache; "one" (im Sinne des deutschen "man") sieht man selten, Passivkonstruktionen ebenso.